Die Kraft aus dem Nichts

Einen absolut leeren Raum gibt es für Physiker nicht. Selbst das kosmische Vakuum befindet sich fortwährend in brodelnder Bewegung. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 8 Min.

Man stelle sich vor, dass aus der Welt alle materiellen Objekte entfernt würden. Was bliebe übrig? Ein leerer Raum, das totale Nichts? Diese Frage treibt Philosophen und Naturwissenschaftler schon seit der Antike um. Die Ersten, die sich systematisch Gedanken über das Verhältnis von Sein und Leere machten, waren die Vorsokratiker. Thales von Milet ging zum Beispiel davon aus, dass der Raum kontinuierlich mit Materie gefüllt ist, und zwar mit Wasser, dem Urstoff aller Dinge. Das reine Nichts hatte in Thales’ Welt ebenso wenig Platz wie der leere Raum. Abgeleitet von dem lateinischen Wort »plenus« für voll, wird eine solche Auffassung auch als Plenismus bezeichnet. Berühmte Vertreter dieser naturphilosophischen Lehre waren in der Neuzeit die Philosophen René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz.

Eine gänzlich andere Auffassung entwickelte Demokrit von Abdera. Im Anschluss an seinen Lehrer Leukipp postulierte er die Existenz einer Unzahl von nicht mehr teilbaren Materieeinheiten (Atome), die sich im leeren Raum zu immer neuen Kombinationen verbinden und so die Vielfalt der Dinge formen. »In Wirklichkeit gibt es nur die Atome und den leeren Raum«, lautete Demokrits Credo. Aus heutiger Sicht kann man die Tragweite dieser Idee nicht hoch genug einschätzen. Als der Physiknobelpreisträger Richard Feynman einmal gefragt wurde, welche wichtigste Erkenntnis der Menschheit er einer außerirdischen Zivilisation mitteilen würde, antwortete er: »Alles besteht aus Atomen.«

Doch Demokrits Modell von den sich im leeren Raum bewegenden Atomen erregte das Missfallen eines weitaus einflussreicheren Philosophen. Die Rede ist von Aristoteles, der ebenfalls ein überzeugter Plenist war und für den es keine Bewegung ohne treibendes Medium gab. Deshalb dachte er sich den gesamten Raum mit einem Äther erfüllt und erklärte, dass die Natur eine Scheu vor der Leere habe. Lateiner sprachen später vom »Horror Vacui«. Wie andere Auffassungen von Aristoteles wurde auch dessen Plenismus von der Kirche im Mittelalter zum Dogma erhoben. Einer der Ersten, die den leeren Raum zu rehabilitieren versuchten, war Giordano Bruno. Doch der Einsatz des später als Ketzer verbrannten Philosophen blieb folgenlos, denn noch immer fehlte ein empirischer Beleg für die Existenz eines Vakuums.

Das änderte sich im Jahr 1644. Auf Anregung Galileis gelang dem italienischen Physiker Evangelista Torricelli der Nachweis, dass sich zumindest ein luftleerer Raum herstellen lässt. Das klassische Experiment hierzu gestaltete sich wie folgt: Zuerst füllte Torricelli ein längeres Glasrohr mit Quecksilber und verschloss es mit einem Finger. Dann tauchte er das Rohr mit der verschlossenen Öffnung nach unten in eine Schale voller Quecksilber. Als er das Rohr öffnete, floss das darin befindliche flüssige Metall in die Schale. Aber nicht vollständig. Bei einer Höhe von etwa 76 Zentimetern blieb die Quecksilbersäule stehen und in dem Glas darüber entstand ein Vakuum bzw. ein luftleerer Raum, an dem die Säule zu hängen schien. In Wirklichkeit drückte die Umgebungsluft auf das Quecksilber in der Schale und verhinderte so das völlige Abfließen des Metalls aus der Röhre.

Obwohl auch andere Naturforscher, darunter der Franzose Blaise Pascal, das Experiment wiederholten und verfeinerten, gaben sich die Plenisten nicht geschlagen. »Dieser bloß scheinbare leere Raum ist gewiss mit Äther gefüllt, der ohne Schwierigkeiten (in das Glas) hineinkommt«, meinte der Mathematiker Leonard Euler. Andere behaupteten, dass sich oberhalb des Quecksilbers feinste Quecksilberdämpfe gebildet hätten. Und sie lagen damit nicht falsch. »Heute weiß man, dass sich über dem Quecksilber tatsächlich ein gesättigter Dampf von Quecksilber befindet«, erklärt der Potsdamer Physikdidaktiker Klaus Liebers. »Damals allerdings glich der Einwand einer puren Spekulation zur Rettung von Aristoteles.«

Ein aufsehenerregendes Experiment führte der Magdeburger Physiker Otto von Guericke, der Erfinder der Luftpumpe, 1654 auf dem Reichstag zu Regensburg durch. Er legte zwei Halbkugeln aus Metall aufeinander, dichtete sie mit einem Lederring ab und pumpte sie leer. Dann ließ er vor jede Halbkugel 15 Pferde spannen, die versuchten, die Kugel auseinanderzureißen. Doch der Luftdruck, der auf das darin befindliche Vakuum wirkte, war so stark, dass die Pferde sich vergeblich abmühten. Erst als Guericke die Kugel belüftete, ließen sich die beiden Halbkugeln ohne großen Kraftaufwand trennen.

Praktisch ist es natürlich unmöglich, alle Gasmoleküle aus einem abgeschlossenen Behälter zu entfernen und so einen völlig luftleeren Raum zu erzeugen. Mithilfe spezieller Pumpen lassen sich heute jedoch Vakua von höchster Qualität herstellen, die beispielsweise in der physikalischen Grundlagenforschung oder der Mikroelektronik zum Einsatz kommen. Von einem Hochvakuum spricht man, wenn der Druck der darin verbliebenen Moleküle zwischen 10-3 und 10-7 Hektopascal liegt. Im sogenannten Ultrahochvakuum werden noch niedrigere Drücke erreicht, nämlich 10-7 bis 10-12 Hektopascal. Entsprechend groß ist die mittlere freie Weglänge der noch vorhandenen Moleküle, also die Strecke, die diese ohne Stoß im Raum zurücklegen. Sie kann im Ultrahochvakuum bis zu 100 000 Kilometer betragen. Ein nahezu perfektes Vakuum herrscht im kosmischen Raum, der im Schnitt ein Teilchen pro Quadratzentimeter enthält. Wohlgemerkt im Schnitt. In manchen Raumbereichen zwischen den Sternen einer Galaxie befinden sich gar keine Atome. Dennoch werden auch diese Regionen in jeder Sekunde von Abermilliarden von Photonen, Neutrinos und anderen Teilchen durchströmt.

Streng genommen hätten also nicht die Atomisten, sondern die Plenisten im Nachhinein Recht behalten, so der Karlsruher Physiker Henning Genz. »Räume, die so leer sind, wie es im Einklang mit den Naturgesetzen überhaupt möglich ist, bilden das physikalische Nichts. Aber das bedeutet nicht, dass solche Räume im Wortsinn leer sind.« Sie enthalten zum Beispiel die bei jeder Temperatur auftretende Wärmestrahlung, die erst am unerreichbaren absoluten Nullpunkt der Temperatur verschwände. Doch selbst dann würde der Raum nicht in physikalischer Untätigkeit verharren.

Schuld daran ist die Quantenmechanik. Der leere Raum, den sie beschreibt, stimmt laut Genz zwar »netto« mit dem leeren Raum unserer Vorstellung überein, aber nicht »brutto«. Das heißt, aus zufälligen Fluktuationen der Energie des leeren Raumes entstehen fortlaufend Teilchen-Antiteilchen-Paare (zum Beispiel Elektronen und Positronen), die zunächst auseinander fliegen, sich dann wieder vereinigen und durch Zerstrahlung gleichsam im Nichts verschwinden. Diese Teilchen nennt man »virtuell«, da sie ohne Energiezufuhr von außen nicht zu realen Teilchen werden können. Dass der leere Raum überhaupt zu einer solchen Dynamik fähig ist, folgt aus der Heisenbergschen Unschärferelation für Energie und Zeit. Danach muss das Vakuum unentwegt Energie bereitstellen, und zwar viel Energie für kurze und wenig Energie für längere Zeit. Folglich treten schwere Teilchen-Antiteilchen-Paare wie Protonen und Antiprotonen im Vakuum nur kurzzeitig virtuell in Erscheinung.

Mitunter entfalten aber auch virtuelle Teilchen eine reale Wirkung. Bereits 1948 sagte der niederländische Physiker Hendrik Casimir voraus, dass zwischen zwei parallelen, leitfähigen Platten im Vakuum eine anziehende Kraft entsteht. Acht Jahre später konnten sowjetische und niederländische Forscher den Casimir-Effekt experimentell nachweisen. Erklärt wird dieses merkwürdige Phänomen so: Der Einfluss der virtuellen Teilchen ist zwischen den Platten geringer als in deren Umgebung. Dadurch wirkt von außen ein sogenannter Photonendruck auf die Platten und schiebt sie etwas zusammen.

In einem raffinierten Experiment ist es schwedischen Forschern unlängst sogar gelungen, virtuelle Photonen zu »materialisieren«. Sie pumpten zu diesem Zweck kinetische Energie ins Vakuum und ließen die entstehenden Photonen an einer Art Spiegel abprallen, der sich extrem schnell bewegte. Dadurch wurden die Photonen in einen realen und messbaren Zustand überführt. Prinzipiell könnte man durch entsprechende Energiezufuhr auch Elektronen und andere Teilchen aus dem Vakuum »befreien«.

Nach den heute gültigen Vorstellungen der Physik waren es letztlich Vakuum- bzw. Nullpunktschwankungen von Feldern im frühen Universum, die dazu führten, dass sich im Kosmos Strukturen wie Galaxien und Galaxienhaufen herausbildeten, schreibt der Kölner Physiker Claus Kiefer im jüngsten Heft der Zeitschrift »Physik in unserer Zeit«. »So verdanken auch wir unsere Existenz dem Vakuum, vor dem die Natur keine Scheu hat.«

Weitere verblüffende Erkenntnisse über den leeren Raum birgt die von Albert Einstein 1915 begründete allgemeine Relativitätstheorie. Danach ist der Raum, anders als in der Mechanik Newtons, kein passiver Behälter für die physikalischen Vorgänge, sondern an diesen selbst beteiligt. Kurz und prägnant lässt sich der dialektische Grundgedanke dieser Theorie so formulieren: Die Materie befiehlt dem Raum, wie er sich zu krümmen hat, und der Raum befiehlt der Materie, wie sie sich bewegen muss. Würde man nun aus dem Raum alle Objekte entfernen, bliebe auch hier kein strukturloses Nichts zurück. Denn selbst ein objektloser Raum besitzt geometrische Eigenschaften. Er kann flach sein oder gekrümmt - in Abhängigkeit etwa von der sogenannten Dunklen Energie, die häufig auch als Vakuumenergie bezeichnet wird. Sie durchwebt den gesamten Raum und dient in der modernen Kosmologie dazu, die beschleunigte Expansion des Universums zu erklären.

Bis heute weiß allerdings niemand, wie diese ad hoc eingeführte Energie beschaffen ist, von der man annimmt, dass sie immerhin 72 Prozent der gesamten Energiedichte des Universums ausmacht. Ein experimenteller Beleg für ihre Existenz fehlt. Ebenso ein tragfähiger Ansatz, der geeignet wäre, die Dunkle Energie in den Formalismus der Quantenmechanik zu integrieren. Denn trotz intensiver Bemühungen ist es Physikern bislang nicht gelungen, allgemeine Relativitätstheorie und Quantenmechanik zu vereinigen. Erst wenn dies geschehen sei, so Henning Genz, werde man genauer sagen können, wie viel Leere im Raum die Naturgesetze prinzipiell zulassen.

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